Argument 14
Deutscher Sozialstaat: Wie gewährleisten wir soziale Sicherheit?
Der deutsche Sozialstaat bietet Sicherheit bei Notlagen. Aber das System ist erneuerungsbedürftig. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist groß und wächst. Ein erster Schritt der Verbesserung wurde mit dem neuen Bürgergeld getan. Aber reicht das für eine grundlegende Reform des komplizierten Sozialsystems? Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ein Weg?
Der deutsche Sozialstaat bietet in vielen Lebenslagen Sicherheit. Wer in wirtschaftliche Not gerät, weil er alt oder krank ist, sehr wenig verdient oder arbeitslos geworden ist, erhält eine Unterstützung. Darauf haben alle Bürger*innen einen Anspruch. Sozialleistungen gehören zum Kern der sozialen Marktwirtschaft. Deutschland gibt dafür viel Geld aus: Über 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für Sozialausgaben ausgegeben.¹ Aber es gibt einen enormen Erneuerungsbedarf, denn neben der Existenzsicherung soll der Sozialstaat für sozialen Ausgleich sorgen, Teilhabe und Zusammenhalt in der Demokratie stärken. Und daran hapert es.
Soziale Ungleichheit verringert Bildungschancen und Teilhabe
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist bei den Einkommen und noch viel stärker bei den Vermögen in Deutschland weit größer als im EU-Durchschnitt, stellt der Sozialatlas der Heinrich-Böll-Stiftung fest.² Die reichsten zehn Prozent der Haushalte verfügen über 56,1 Prozent des Nettogesamtvermögens, die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur über 1,3 Prozent. Diese extreme Ungleichheit hat weitreichende Folgen: auf die Lebenserwartung, die Gesundheit, auf Bildungschancen der Kinder, auf soziale und kulturelle Teilhabe.
Bürokratie entschlacken
Woran krankt unser System also? Das deutsche Sozialsystem fußt auf mehreren Säulen. Die Leistungen werden zum einen aus Beiträgen der Arbeitnehmer*innen und den Arbeitgeber*innen in die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung gespeist und zum anderen aus Steuermitteln finanziert. Komplett steuerfinanziert sind die Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe, Wohngeld, Kinder- und Elterngeld oder Ausgaben für die Jugendhilfe. Aber auch die Rentenkasse erhält erhebliche steuerfinanzierte Zuschüsse. Zwölf Sozialgesetzbücher und viele weitere Gesetze bilden das Regelwerk. Und das macht es kompliziert – für die beteiligten Ämter, aber insbesondere auch für die Berechtigten. Diskutiert werden deshalb alternative Ansätze, die die Bürokratie entschlacken und die Würde der Empfänger:innen achten.
Bürgergeldreform ermöglicht mehr berufliche Perspektiven
Seit Jahresbeginn 2023 hat das Bürgergeld das alte „Harz IV“-System abgelöst. Im Mittelpunkt des Bürgergeld-Gesetzes stehen verbesserte Qualifizierungsmöglichkeiten und -anreize. Der bisher geltende „Vermittlungsvorrang“ wurde abgeschafft. Die Regierung sieht dies als großen Schritt nach vorn, weil nun mehr Aus- und Weiterbildungen ermöglicht würden, die eine langfristige berufliche Perspektive bieten.
Bedingungsloses Grundeinkommen gefordert
Noch weitergehend sind die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, das allen Bürger*innen ein existenzsicherndes Einkommen garantieren soll, unabhängig von ihrer Bedürftigkeit. Zu den Befürwortenden gehören u.a. der 2022 verstorbene dm-Gründer Götz Werner und der ehemalige Siemens-CEO Joe Kaeser. Weite Teile der Sozialdemokraten³ lehnen die Idee wegen mangelnder Anreize für individuelle Leistungen ab. Dagegen haben die Grünen die Idee eines Grundeinkommens ohne Bedürftigkeitsprüfung als langfristiges Ziel im Grundsatzprogramm verankert.⁴ Wie das bedingungslose Grundeinkommen auf das Verhalten der Menschen wirkt, wird derzeit in einem dreijährigen Sozialexperiment erforscht. 122 Menschen erhalten während der Studie 1.200 Euro steuerfrei – egal, ob und wie viel sie verdienen. Ergebnisse liegen noch nicht vor. Unklar ist zudem die Finanzierung. Nach einer Untersuchung der Universität Stuttgart wären dafür drastische Erhöhungen der Einkommenssteuer notwendig, die aber zu einer Umverteilung des Wohlstands zugunsten unterer Einkommen beitragen könnte.⁵
Mehr zum Argument
Neuerung des deutschen Sozialstaates
Die Verbesserung mit dem Bürgergeld ist ein erster Schritt.
Quellennachweise
- Bundeszentrale für politische Bildung (2023): Sozialbudget (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle - Heinrich-Böll-Stiftung (2023): Sozialatlas 2022 (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle - SPD (2019): Recht auf Arbeit statt Grundeinkommen (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle - Bündnis 90/Die Grünen (2020): Grundsatzprogramm (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle - Universität Stuttgart (2. Mai 2023): Bedingungsloses Grundeinkommen: Was kostet und bringt es für Haushalte und Staat? (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle
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