Argument 15
Daseinsvorsorge: Öffentliche Infrastrukturen für
ein Wirtschaften mit Zukunft
Wohnen, Energieversorgung, Verkehr, Gesundheit, ja sogar Wasser: In den 1990er-Jahren wurden viele Aufgaben privatisiert, die zuvor der Staat erledigte. Spätestens mit der Corona-Pandemie aber wurde deutlich, wie wichtig eine funktionierende und bezahlbare öffentliche Infrastruktur ist. Aber wer erledigt die Aufgaben der Daseinsvorsorge effizienter – der Markt oder der Staat?
Infrastrukturen wie Wasser, Abwasser oder Eisenbahnen wurden während der Industrialisierung zunächst von privaten Firmen aufgebaut. Zusammengefasst werden diese wichtigen Versorgungsleistungen unter dem vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff geprägten Begriff „Daseinsvorsorge“.¹ Im 20. Jahrhundert zog der Staat die Daseinsvorsorge zunehmend an sich, sie wurde als staatliche Aufgabe begriffen. Dies änderte sich im Laufe der 1980er und 90er Jahre: Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung gehörten zum Kern der damaligen neoliberalen Politik. Private Firmen könnten Infrastrukturen effizienter betreiben, lautete das Credo. Denn der Staat habe kein Interesse daran, seine Arbeit zu beschleunigen oder das Angebot aufzuwerten, weil er nicht durch mögliche finanzielle Verluste oder Gewinne motiviert sei, so die Argumentation. Nach angloamerikanischem Vorbild wurde die Daseinsvorsorge in den 1990er Jahren auch in Deutschland weitgehend privatisiert.
Privatisierungsversprechen erfüllten sich nicht
Manches funktionierte in der Folge tatsächlich besser. So kann man heute deutlich billiger telefonieren als zu Zeiten des Staatsmonopols. Aber viele Versprechungen von damals haben sich nicht erfüllt. Die Bahn baute zwar ihr lukratives ICE-Netz aus, aber unrentable Strecken wurden dafür stillgelegt, der Personalbestand halbiert. Ganze Regionen verloren den Anschluss ans Fernbahnnetz. Der geplante Börsengang hat bis heute nicht stattgefunden.
Ein anderes Beispiel sind die 1999 teilprivatisierten Berliner Wasserbetriebe, die für etwa 1,7 Milliarden Euro an den französischen Wasserkonzern Veolia und den deutschen Energiekonzern RWE verkauft wurden. Mit den Erlösen sollten Löcher im Berliner Haushalt gestopft werden. Nach der Privatisierung zogen die Wasserpreise in Berlin deutlich an. Acht Jahre nach der Privatisierung startete der Berliner Wassertisch² ein Volksbegehren zur Rücknahme der Privatisierung. Nach dem erfolgreichen Volksentscheid 2011³ wurde die Wasserversorgung zurückgekauft und ist seither wieder in öffentlicher Hand. Die Preise für das Trinkwasser sind wieder zurückgegangen.
Steuerungsmöglichkeiten nicht aus der Hand geben
Aus Gründen wie diesen wehren sich zahlreiche Initiativen, wie Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e.V.⁴, gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur und fordern die Rekommunalisierung. Denn mit der Privatisierung hat die öffentliche Hand viele Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand gegeben, ob bei der Wohnraumversorgung oder auch bei der Energiewende. So müssen die Verteilnetze für Strom, Wärme und Gas bzw. grünen Wasserstoff zusammengedacht und geplant werden, um die Energiewende umzusetzen. Das geht einfacher, wenn sie in einer Hand sind und die öffentliche Hand direkten Einfluss auf Investitionsentscheidungen hat. Dabei sollten die Bürger*innen mit ihrer Kreativität einbezogen werden. Was möglich ist, zeigen die ElektrizitätsWerke Schönau. Aus einer Bürgerinitiative wurde in den 1990er Jahren eine Genossenschaft, die schließlich das lokale Stromnetz übernommen hat, weil sie erneuerbare Energie haben wollte.⁵
Mehr zum Argument
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Öffentliche Infrastrukturen für ein Wirtschaften mit Zukunft.
Quellennachweise
- Gramlich, Ludger et al. (2019): Zukunftsorientierte Daseinsvorsorge – Zeitgemäße Ausgestaltung statt ideologischer Schranken in: Wirtschaftsdienst, Heft 11, S. 789-794 (aufgerufen 20.06.23)
→ Zur Quelle - Berliner Wassertisch (2023): (aufgerufen 20.06.23)
→ Zur Quelle - Bericht der Landesabstimmungsleiterin (2011), Volksentscheid über die Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben (aufgerufen 20.06.23)
→ Zur Quelle - Gemeingut in BürgerInnenhand (2023): (aufgerufen 20.06.23)
→ Zur Quelle - ElektrizitätsWerke Schönau (2023): (aufgerufen 20.06.23)
→ Zur Quelle
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