Argument 3
Zwischen BIP und ökologischem Fußabdruck: Die Debatte um die Messung von Wohlstand
Unser Wirtschaftssystem basiert auf Wachstum; Wohlstand und der ökologische Fußabdruck wuchsen gleichzeitig. Seit Beginn der Industrialisierung produzieren wir einen immer schneller wachsenden Ressourcenverbrauch. Wie kann ein Wirtschaftssystem gestaltet werden, das innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert und gleichzeitig Wohlstand sichert? Und was bedeutet Wohlstand?
Unstrittig ist, dass unser Wirtschaftssystem auf Wachstum basiert und dass dieses Wachstum seit Beginn der Industrialisierung zu einem immer höheren Ressourcenverbrauch geführt hat. Weitaus umstrittener ist, wie ein Wirtschaftssystem gestaltet werden kann, dass innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert und gleichzeitig Wohlstand sichert. Und was bedeutet Wohlstand?
Wie Wohlstand neu messen?
Seit mehr als 70 Jahren wird Wohlstand mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. Weil es soziale und ökologische Kriterien weitgehend ausklammert, wird die Unzulänglichkeit dieser Messmethode seit Jahrzehnten kritisiert. Seitdem wird nach einer neuen Wohlstandsmessung gesucht, die neben dem materiellen Wohlstand auch soziale und ökologische Dimensionen von Wohlstand abbildet. Im Jahr 2010 legte eine Enquete-Kommission des Bundestages hierzu einen über 800 Seiten starken Abschlussbericht vor. Neben materiellem Wohlstand, gemessen an Einkommensverteilung, BIP pro Kopf und Staatsschulden sollen die gleichwertigen „Indikatorensets“ „Soziales“, „Teilhabe“ und „Ökologie“ treten, so der Bericht. Auch die UNO sucht seit mehr als 10 Jahren nach Methoden für ein „grünes BIP“, die auch nicht-materielle Indikatoren, wie gutes Regieren, nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Kulturförderung und Klimaschutz bewertet.
Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum entkoppeln
Ist Wachstum bei drastisch reduziertem Ressourcenverbrauch möglich und wie könnte dies erreicht werden? Die unter anderem von der OECD vertretene Theorie des „Grünen Wachstums“ besagt, dass der Naturverbrauch durch Effizienzsteigerungen und technische Innovationen vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werden kann. Demnach sollen nachhaltige Produkte und Produktionsprozesse sowie die Internalisierung von Umwelt- und Sozialkosten der Produktion den Ressourcenverbrauch senken.¹
Ist eine Gesellschaft ohne Wachstum glücklicher?
Kritiker:innen bezweifeln dies. Schließlich bräuchten wir inzwischen fast drei Erden, wenn die ganze Welt unseren Lebensstil hätte. Im Jahr 2022 hatte Deutschland bereits Anfang Mai seinen Anteil an Ressourcen verbraucht, wenn diese gleichmäßig auf alle Menschen in allen Ländern verteilt wären. Für den Rest des Jahres 2022 lebte Deutschland auf Pump – auf Kosten anderer Länder und zukünftiger Generationen.² In ihrer Studie „Is Green Growth Possible?“ (Ist Grünes Wachstum möglich?) kommen Jason Hickel und Giorgos Kallis zu dem Schluss, dass bei einer Verlagerung der Produktionsstätten in den globalen Süden sich auch Ressourcenverbräuche nur verschieben könnten. Dies würde zu einer scheinbaren Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrach führen.³ Andere Theorien und Bewegungen beschäftigen sich z.B. mit der Frage, ob Wachstum verzichtbar ist und ob eine Gesellschaft ohne Wachstum „glücklicher“ wäre. Der Blog „Postwachstum“ ist eine Plattform für diesen Diskurs.⁴
Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich noch im Entwicklungsstadium befinden. In der Bevölkerung halten sich Befürwortende und Ablehnende laut einer Umfrage von Infratest Dimap vom November 2022 die Waage: 46 Prozent der Befragten unterstützen die Position, dass man auf Wirtschaftswachstum verzichten müsse, um den Klimawandel zu stoppen. Ebenso viele (46 Prozent) lehnen diese These ab.⁵
Mehr zum Argument
Quellennachweise
- OECD (2011): Towards Green Growth (aufgerufen 13.04.23)
→ Zur Quelle
Hoffmann-Müller, Regina; Lauber, Ursula (2013): Green-Growth-Indikatoren der OECD (aufgerufen 13.04.23)
→ Zur Quelle - Earth Overshoot Day (2023): Country Overshoot Days (aufgerufen 13.04.23)
→ Zur Quelle - Ressourcenwende (2023): Zusammenfassung der Studie „Ist Grünes Wachstum möglich?“ (aufgerufen 13.04.23)
→ Zur Quelle - Institut für ökologische Wirtschaftsforschung GmbH (gemeinnützig) (2022): Blog Postwachstum (aufgerufen 13.04.23)
→ Zur Quelle - Infratest Dimap (2022): Klimawandel: Bereitschaft zu Verhaltensänderungen in Ernährung und Mobilität (aufgerufen 28.06.23)
→ Zur Quelle
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